23.07.2004
Dt. Bankenverband: Die Vertreibung aus dem 'kollektiven Freizeitpark'
Köln, den 23.07.2004 (Investmentfonds.de) - Die britische Zeitschrift „The Economist“
verbreitete in einem Artikel im Juni 2004 Optimismus. Die Unterschiede im erwirtschafteten
Bruttoinlandsprodukt diesseits und jenseits des Atlantiks seien je Beschäftigtenstunde
gerechnet nur minimal. Europa so die frohe Botschaft sei im Wettbewerb mit den USA nicht
zurückgefallen. Diese Botschaft hatte allerdings eine Einschränkung. Ausdrücklich wurde
darauf verwiesen, dass dies nur für die EU ohne Deutschland gelte. Vor allem der Blick
auf unseren Nachbarn Frankreich zeigt, dass dort die Produktivität je Beschäftigtenstunde
das Niveau der USA erreicht, ja sogar überschritten hat. Im Jahr 2003 sind allerdings
alle europäischen Länder deutlich hinter die USA zurückgefallen. Dies ist jedoch alleine
das Ergebnis eines relativ hohen amerikanischen Wirtschaftswachstums bei geringem
Beschäftigungszuwachs. Es ist nicht zu erwarten, dass damit ein neuer Trend begründet
ist.
Der Umstand, dass die europäischen Länder - gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf -
dennoch in den letzten dreißig Jahren die Lücke zu den USA nicht schließen konnten, liegt
demnach nicht darin begründet, dass die Arbeitnehmer weniger produktiv sind als ihre
amerikanischen Kollegen, sondern darin, dass die steigende Produktivität in Europa ge-
nutzt wurde, um die Arbeitszeit deutlich stärker zu verringern, als dies in den USA
geschehen ist.
Eine hohe Freizeitpräferenz in Europa …
In den letzten dreißig Jahren sind in allen europäischen Ländern - und nicht nur in
Deutschland - die Arbeitszeiten drastisch gesunken. Die durchschnittliche effektive
jährliche Arbeitszeit pro Arbeitnehmer lag in Deutschland nach OECD-Angaben im Jahr
2003 mit 1459 Stunden um fast 24 % unter dem Niveau des Jahres 1970. In den Niederlanden
sank im gleichen Zeitraum die Arbeitszeit sogar um mehr als 25 %, in Irland um 22 %,
aber auch in Frankreich lag die Arbeitszeit um 23 % unter dem Niveau des Jahres 1970.
Zum Vergleich: Die amerikanischen Arbeitnehmer arbeiten heute nur knapp 5 % weniger als
damals.
… aber unterschiedliche Wachstumserfolge
Diese Entwicklung der jährlichen Arbeitszeit in Europa muss man vor Augen haben, wenn
nun in Deutschland wieder über die Verlängerung der Arbeitszeit gestritten wird. Denn
ganz offensichtlich waren unsere Nachbarländer trotz einer Verkürzung der Arbeitszeit
wirtschaftlich erfolgreicher als Deutschland. Sie haben gezeigt, dass eine hohe
Freizeitpräferenz nicht notwendigerweise auch Verzicht auf Wachstum und Beschäftigung
bedeutet. Denn mit Ausnahme Deutschlands ist es allen anderen europäischen Ländern ge-
lungen, trotz sinkender jährlicher Arbeitszeit je Beschäftigten die Zahl der geleisteten
Arbeitsstunden zu erhöhen. Mit anderen Worten, der Verringerung der Arbeitszeit folgte
zeitgleich ein zum Teil erheblicher Beschäftigungszuwachs. Konzentriert man die Analyse
auf die letzten zehn Jahre und beginnt mit dem Rezessionsjahr 1993, dann liegt nur in
Deutschland die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden 4 % unter dem damaligen
Niveau. In den Niederlanden, wo die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit eines
Arbeitnehmers sogar noch niedriger ist als in Deutschland, lag die Gesamtzahl der ge-
leisteten Arbeitsstunden im Jahr 2003 um fast 18 % höher als vor zehn Jahren. In den
USA betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum nur knapp 13 %.
Ist Arbeitszeitverlängerung die richtige Antwort auf das Beschäftigungsproblem?
Bei einer ähnlichen Entwicklung der jährlichen Arbeitszeit pro Arbeitnehmer wie in
Deutschland ist es unseren europäischen Nachbarn offenbar weitaus besser gelungen, das
nationale Produktionspotenzial auszunutzen. Die Folgen für Wachstum und Beschäftigung
hierzulande sind hinlänglich bekannt. Die Schlussfolgerung daraus ist einfach: Auch in
Deutschland muss wieder mehr gearbeitet werden. Dabei sollte der Schwerpunkt der Be-
mühungen sicherlich auf der Schaffung neuer Arbeitsplätze liegen. Zur Verbesserung der
Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze gehört zweifelsohne aber auch, dass die Menschen
in Deutschland bereit sind, auf einen Teil ihrer üppigen Freizeit zu verzichten und
wieder mehr zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund macht die jüngste Diskussion um die
Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich und eine Verkürzung des
Jahresurlaubs durchaus Sinn.
Allerdings besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass dieses richtige Argument
für eine falsche Diskussion genutzt wird, nämlich dass Lohnverzicht die Arbeitsplätze in
Deutschland dauerhaft sichern könnte. Der Wohlstand in Deutschland kann aber nicht
dadurch gesichert werden, dass wir in Lohnwettbewerb zu osteuropäischen und südasiatischen
Ländern treten. Ganz im Gegenteil, erst die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung
durch die Auslagerung von Arbeitsplätzen hat in der Vergangenheit für wachsenden Wohlstand
in Deutschland gesorgt und wird dies auch in der Zukunft tun.
Die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland sollte in der Regel Vorteile für beide
Länder mit sich bringen. Das McKinsey Global Institute hat in einer Studie errechnet,
dass jeder Dollar, der von einem amerikanischen Unternehmen für die Verlagerung eines
Arbeitsplatzes ins Ausland ausgeben wird, das Bruttoinlandsprodukt um netto 13 Cent steigen
lässt, also auch zu einem Gewinn an Arbeitsplätzen führt. In Deutschland hat man dagegen
eher die Erfahrung gemacht, dass Produktivität exportierbar ist. Das heißt, Tochterunter-
nehmen beispielsweise in Osteuropa erreichen auf Grund des hohen Ausbildungsstands der
dortigen Belegschaft ein ähnlich hohes Produktivitätsniveau wie der heimische Betrieb bei
deutlich niedrigeren Lohnstückkosten. Anders als in den USA ist es in Deutschland bislang
aber nicht gelungen, den unternehmerischen Vorteil in Form kostengünstigerer Zulieferungen
und damit einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit auch in einen volkswirtschaftlichen
Vorteil zu verwandeln. Denn die Schaffung neuer, höher qualifizierter Arbeitsplätze für
die Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze verlagert wurden, ist bislang nur unzureichend ge-
lungen. Nur wenn dies geschieht, ist die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung für
beide Seiten von Vorteil.
Vor diesem Hintergrund ist der Versuch, die durch Abwanderung bedrohten Arbeitsplätze in
Deutschland durch längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich - sprich Lohnsenkungen - zu
verteidigen, nur ein bedingt taugliches Mittel. Eine Rückkehr zu 40-Stunden Woche ver-
schafft lediglich eine Atempause, wird aber das Grundproblem fehlender Arbeitsplätze nicht
lösen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir müssen in Zukunft in Deutschland bereit sein,
wieder länger und für weniger Geld zu arbeiten. Denn der Vergleich mit unseren Nachbarn
zeigt, dass die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich der untaugliche
Versuch war, mehr Freizeit zu erhalten, ohne auf Einkommen zu verzichten. Aus der über-
fälligen Umkehr lassen sich auch positive Beschäftigungseffekte ableiten. Aber der Ansatz
für die Überwindung der Wachstumsschwäche und der Langzeitarbeitslosigkeit liegt woanders.
Dauerhaftes Wirtschaftswachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit sind für ein hoch
entwickeltes Industrieland wie Deutschland davon abhängig, inwieweit es gelingt, sich dem
internationalen Kostenwettbewerb zu entziehen. Der Wohlstand in Deutschland war und ist
deshalb darauf gebaut, kontinuierlich innovative Produkte zu entwerfen und hoch qualifi-
zierte Arbeitsplätze mit einer überdurchschnittlichen Wertschöpfung zu schaffen. Die
Existenz und die Anzahl der weniger produktiven Arbeitsplätze wird vor allem von diesen
Arbeitsplätzen abhängen. Diese Zusammenhänge sind nicht unbekannt. Es sei daran erinnert,
dass die Einführung der Greencard im IT-Bereich damit begründet wurde, dass durch diese
hoch qualifizierten Fachkräfte zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland entstehen würden.
Vorrangig geht es also um die Stärkung der Innovationskraft und die Umsetzung in Arbeits-
plätze.
Was die Langzeitarbeitslosen oder die Arbeitskräfte mit niedriger Produktivität anbelangt,
so ist auf zwei Dinge zu achten - die Höhe des Mindestlohnes und die Funktionsfähigkeit
des Arbeitsmarktes. Die Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich hat keinen Einfluss
auf den Mindestlohn, der in Deutschland vom Sozialhilfeniveau bestimmt wird. Allein die
Zusammenlegung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II wird hier
zu einer Senkung führen und den Anreiz zur Aufnahme von Arbeit erhöhen. Neue Arbeitsplätze
werden in größerer Zahl jedoch nur entstehen, wenn der Arbeitsmarkt hinreichend flexibel
ist, d.h. die Tarifverträge den Unternehmen einen großen Spielraum zur Anpassung der
Arbeitszeit lassen und vor allem der Kündigungsschutz die Einstellung von Arbeitskräften
nicht bereits verhindert.
Fazit
Die wirtschaftliche Krise in Deutschland ist nur zu meistern, wenn alle mehr arbeiten.
Dies ins Bewusstsein der Bevölkerung gerufen zu haben ist sicherlich ein Verdienst der
gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Wochenarbeitszeit. Einen erfolgreichen Beitrag
zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise wird diese Initiative jedoch nur dann leisten
können, wenn gleichzeitig die Transformation des Arbeitsmarkts zu einem funktionsfähigen
Markt erfolgt. Unsere europäischen Nachbarn waren bei gleicher Freizeitpräferenz wie wir
nur erfolgreich, weil sie diese Notwendigkeit früher erkannt haben.
Quelle: Investmentfonds.de